"Ich war ein verborgener Schatz und Ich sehnte mich danach, erkannt zu werden; also schuf Ich die Welt."
(Hadith Kudsi des Propheten Mohammed)

Für jeden nachdenklichen Menschen erhebt sich die Frage: Was ist der Sinn, warum wurde diese Welt erschaffen? 
Die Antwort lautet: Um die Monotonie zu brechen. Nennen wir es Gott, nennen wir es das Einzige Wesen, nennen wir es Ursprung und Ziel von allem; ES war allein und wünschte, dass da etwas für ES zu erkennen sein sollte. Die Hindus sagen, dass die Schöpfung der Traum Brahmas sein. Man mag es einen Traum nennen, aber es ist das Wesentliche. Die Sufis erklären es so: Gott, der Liebende, wollte Sein eigenes Wesen erkennen, und darum wurde durch die Schöpfung das Geliebte erschaffen, auf dass die Liebe offenbar werden sollte. Wenn wir es in diesem Licht betrachten, dann ist alles, was wir erblicken, das Geliebte. Rumi, der größte Dichter Persiens, drückt es so aus: "Der Geliebte ist alles in allem, der Liebende verhüllt ihn nur; der Geliebte ist alles, was lebt, der Liebende ist ein totes Ding."

Darum nannten die Sufis Gott "den Geliebten". Und sie sahen den Geliebten in allen Wesen. Sie stellten sich Gott nicht im Himmel vor, nicht getrennt und nicht weit von allen Wesen. In allem und in jeder Form erblickten die Sufis die Schönheit Gottes. In dieser Erkenntnis wird der höchste Sinn des Lebens erfüllt. Wie in alten Schriften gesagt wird, fragte Gott Adam: "Wer ist dein Herr?". Und Adam antwortete: "Du bist mein Herr." Dies bedeutet, dass es der Sinn der Schöpfung ist, dass jede Seele ihren Ursprung wie ihr Ziel erkenne, sich Ihm hingebe und Ihm alle Schönheit, Weisheit und Macht zuschreibe und dadurch selbst vollkommen werde. In der Bibel heißt es: "Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" (aus Hazrat Inayat Khan: A Sufi Message Vol. VI, S. 29 - 30, übersetzt in Sifat Ausgabe 1995/1).


Der Sinn des Lebens besteht, kurz gesagt, darin, dass sich der einzig Seiende seine Einheit selbst wahrnehmbar macht. Er durchläuft verschiedene Entwicklungsstufen oder Ebenen, erlebt verschiedene Wandlungen und wird sich so seiner Einheit gewiss. Solange ER dieses Ziel nicht erreicht hat, ist der Einzige, der einzig Seiende nicht zu jener letzten Befriedigung gelangt, aus der seine göttliche Vollkommenheit besteht. Man kann fragen: "Ist der Mensch das einzige Organ, durch welches Gott sich seiner Einheit bewusst wird?" Gott wird sich seiner Einheit durch seine eigene Natur bewusst. Da Gott das einzige Sein ist, sieht ER seine Einheit in allen Dingen; und durch den Menschen erkennt ER seine Einheit vollkommen. Ein Beispiel: Der Baum trägt viele Blätter. Obwohl nun jedes Blatt sich von anderen unterscheidet, ist der Unterschied doch nicht groß. Jeder Wurm, jeder Keim, jeder Vogel, jedes Tier unterscheidet sich von seinen Artgenossen, doch ist der Unterschied nicht so deutlich wie bei den Menschen. Denkt man an die große Verschiedenheit der zahllosen menschlichen Gestalten – keine Gestalt scheint der anderen genau gleich zu sein –, so gibt uns dies einen lebendigen Beweis von der Einheit Gottes. In einem seiner schönen Verse spricht Asaf-Nizam dieselbe Idee aus: "Du siehst mich mit Verachtung an. Ich gebe zu, dass ich verächtlich bin. Doch zeige mir ein zweites, gleichermaßen verächtliches Geschöpf." Dies bedeutet, dass auch dem schlechtesten Menschen niemand verglichen werden kann, keiner ist ihm gleich. Dieses ist das große Wunder, der Beweis des Eins-Seins, der Beweis der Einheit: dass es in der Schöpfung Gottes keinen Wettstreit gibt und dass niemand mit dem Schöpfer wetteifert. Mit anderen Worten: Es wäre unwürdig, wenn der einzig Seiende bemerken müsste: "Es gibt einen anderen, der mir gleich ist, selbst in der Welt der Mannigfaltigkeit." Selbst in der Welt der Mannigfaltigkeit ist es sein Stolz: "Keiner ist mir gleich." Selbst im niedrigsten Gewande steht ER allein und unvergleichbar da. Man kann fragen: "Erkannte Gott seine Einheit, bevor der Mensch auf der Erde erschien?" Doch wer kann sagen, wie oft der Mensch auf der Erde aufgetaucht und wieder von ihr verschwunden ist? Wir kennen nur die eine Geschichte unseres Planeten. Aber wie viele Planeten und welch grenzenlose Menge Zeit hat es gegeben? Wie viele Schöpfungen sind wohl erschaffen und wieder aufgelöst worden? Wir können nur das eine sagen: Von Gottes Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann man nichts sagen – man kann nur die eine Idee äußern, die der Inbegriff aller Aspekte der Wahrheit ist: dass nur der einzig Seiende war, ist und sein wird; dass alles, was wir sehen, nur seine Erscheinung ist.

Eine Geschichte mag das Mysterium des Lebenszweckes erklären: Eine Fee hatte großes Verlangen, sich die Zeit zu vertreiben, und stieg zur Erde hinab. Dort hatten Kinder ein kleines Puppenhaus erbaut. Die Fee wollte in dieses Puppenhaus hinein, doch war es für sie unmöglich, in einem Raum Platz zu finden, in den nur eine Puppe passte. "Wohlan ...", sagte die Fee, "... ich will einen anderen Weg einschlagen. Ich schicke einen meiner Finger auf diesem Weg, den zweiten auf jenem Weg und alle weiteren Glieder auf anderen Wegen hinein." Sie löste sich in verschiedene Teile auf, und jeder Teil betrat einen anderen Raum des Puppenhauses. Wenn ein Teil ihres Wesens einem anderen Teil begegnete, stießen sie zusammen, was sehr unerfreulich war. Ein Kampf erhob sich unter den verschiedenen Gliedern: "Was kommst du meinen Weg entlang? Es ist mein Weg. Was hast du auf meinem Weg zu schaffen?" Jedes Stück der Fee fand an irgendetwas, an irgendeinem Teil des Puppenhauses Interesse. Doch ging das Interesse bald vorüber, und ein bestimmtes Stück der Fee wollte das Puppenhaus verlassen. Andere Stücke jedoch wollten es nicht gehen lassen und hielten es fest: "Du bleibst hier! Du kannst nicht hinaus." Einige der Stücke wollten es hinausstoßen, doch war keine Möglichkeit dazu vorhanden. So gab es ein allgemeines Durcheinander; keins der Stücke wusste vom anderen, dass es der selben Person angehörte, und doch fühlte sich jedes einzelne Stück unbewusst vom anderen angezogen, weil sie eben Teile desselben Körpers waren. Am Ende machte sich auch das Herz der Fee auf den Weg. Es beschwichtigte die anderen Stücke: "Ihr stammt von mir. Ich möchte euch trösten, ich möchte euch dienen. Wenn ihr Kummer habt, will ich ihn von euch nehmen. Wenn ihr der Hilfe bedürft, will ich euch helfen. Wenn euch etwas mangelt, will ich es euch bringen. Ich weiß, wie sehr ihr euch hier in diesem Puppenhaus betrübt." Doch einige erwiderten: "Wir sind durchaus nicht betrübt. Wir unterhalten uns hier recht gut. Es quält uns nur der Wunsch, hier zu bleiben. Nicht wir, andere sind betrübt." Das Herz sagte: "Ja, ich werde nach euch sehen, und ich werde mich mit euch freuen. Mit den Betrübten werde ich mitfühlen, den Frohen werde ich helfen."

Das Herz war das einzige Stück der Fee, welches wusste, dass all ihre Atome ringsumher zerstreut waren. Die einzelnen Teile fühlten sich, wie gesagt bewusst oder unbewusst, zum Herzen hingezogen, da sie ja zum gleichen Körper gehörten. So groß war die Kraft des Herzens. Sie war der Sonnenkraft gleich, die jede Blume, die sich ihr erschließt, in eine Sonnenblume verwandelt. So verwandelte das Herz mit seiner großen Energie schließlich jedes Stück der Fee, das sich ihm erschloss, in ein Herz. Und da das Herz Licht und Leben selbst war, konnte das Puppenhaus das Herz nicht mehr gefangen halten. Und das Herz freute sich, als es alle Atome fand, die zu seinem Körper gehörten, es war in jedem einzelnen seiner Organe am Werk und verwandelte so mit der Zeit ein jedes dieser Stücke in ein Herz. So  erfüllte sich das Wunder.

Gott ist Liebe. Ist Gott Liebe, so ist die Liebe heilig. Wer dieses Wort gedankenlos ausspricht, dem ist es leerer Schall. Doch wem es etwas bedeutet, dem schließen sich die Lippen, er kann nur wenig sagen. Denn Liebe ist eine Offenbarung an sich: kein Forschen ist nötig, keine Meditation vonnöten, keine Frömmigkeit erforderlich. Wenn Liebe lauter ist, wenn der Funke der Liebe aufzusprühen beginnt, braucht der Mensch nirgends hinzugehen, um Geistigkeit zu erlangen. Denn dann ist Geistigkeit in ihm selbst. Man soll den Funken anfachen, bis er zum ewigen Feuer wird. Die Feueranbeter früherer Zeiten beteten nicht etwa ein wieder verlöschendes Feuer an; sie verehrten ein ewiges Feuer. Wo ist nun das ewige Feuer zu finden? Im eigenen Herzen. Der Funke, der nur einen Augenblick aufglüht und dann wieder erlischt, gehört nicht dem Himmel an, denn im Himmel sind alle Dinge von Dauer. Liebe ist zu einem landläufigen Wort geworden, das man am Tage tausendmal gebraucht, das aber nichts mehr bedeutet. Wer jedoch weiß und fühlt, was Liebe bedeutet, für den ist Liebe Geduld, Ausdauer, Duldsamkeit, Opferwilligkeit, Dienen. Sanftmut, Demut, Bescheidenheit, Güte, Freundlichkeit sind nichts als verschiedene Offenbarungen der Liebe. Man kann sagen: "Gott ist alles, und alles ist Gott", oder auch: "Liebe ist alles, und alles ist Liebe." Es gilt, Liebe zu finden, zu fühlen und ihre Wärme zu spüren. Wer in dieser Welt das Licht der Liebe zu erblicken vermag, wer seine Glut nicht verlöschen lässt, wer die Flamme der Liebe als heilige Fackel hochhält und sich auf seinem Lebenswege von ihr leiten lässt, dem erfüllt sich der Zweck des Lebens. Gemäß der allgemein geltenden Lebensnorm hält man einen Menschen mit gesundem Menschenverstand für einen rechten, für einen tüchtigen Menschen. Aber dem mystischen Maßstab zufolge kann nur der allein ein rechter Mensch sein, der mit seinen Nebenmenschen Mitgefühl hat. Denn was erringen wir durch das Studium der Philosophie und Mystik, durch Konzentration und Meditation? Die Fähigkeit, unseren Mitmenschen besser zu dienen.

Die Wahrheit ist einfach. Doch gerade ihrer Einfachheit halber wollen die Menschen nichts von ihr wissen. In unserem Erdenleben haben wir für alles, was wir schätzen und erwerben wollen, einen hohen Preis zu zahlen. Der Mensch fragt sich daher, warum man die Wahrheit, wenn sie wirklich das kostbarste aller Güter ist, auf so einfache Weise erlangen kann. In diesem Wahn befangen, lehnen viele die Wahrheit in ihrer Einfachheit ab und suchen nach verwickelten Dingen. Man erzähle den Leuten Geschichten, dass es ihnen wie ein Mühlrad im Kopfe herumgeht. Und selbst wenn sie nichts verstehen, werden sie mit Freude denken: "Das sind doch gehaltvolle, kräftige Worte! Zwar verstehe ich die Idee nicht, aber sie muss doch erhaben sein." Aber was jedermann weiß, was sich in jeder Seele als göttlich erweist, das scheint zu billig zu sein, weil die Seele es bereits weiß. Es gibt zweierlei: Wissen und Sein. Es ist leicht, die Wahrheit zu kennen, aber sehr schwer, Wahrheit zu sein. Und nicht im Wissen um die Wahrheit erfüllt sich der Zweck des Lebens – sondern dadurch, dass der Mensch Wahrheit ist.

Aus: Hazrat Inayat Khan: Das innere Leben, S. 154 - 160