Alltagsleben

Zu den notwendigsten Dingen im Leben eines Adepten gehört es, dass er sein Bewusstsein (mind) und seinen Leib für das spirituelle Leben bereit macht. Mit anderen Worten: Man wird zu seinem natürlichen Selbst, ehe man die Wanderung auf dem geistigen Pfad beginnt. Was die Strenggläubigen "Reinheit" nennen, ist eben diese Natürlichkeit. Reines Wasser oder reine Milch bedeuten Wasser oder Milch in dem ihnen eigenen Zustand. Sobald etwas anderes beigemischt wird, verliert eine Substanz ihre Reinheit. Spirituell werden bedeutet: die Reinigung des eigenen Bewusstseins von fremden Bestandteilen, die das natürliche Empfinden beeinträchtigen.

Konzentration, Kontemplation und Meditation tragen dazu bei, das Bewusstsein wieder natürlich werden zu lassen. Jedoch die Mittler, deren sich der Geist bedient, um das Leben zu erfahren, müssen dabei helfen, natürlich zu werden. Diese Mittler sind das Bewusstsein und der Leib. Wie hervorragend auch ein Musiker sein mag: Wenn sein Instrument verstimmt ist, werden die Töne nicht schön sein. Auch ist es nicht richtig, dass es nur auf den Geist (spirit) ankomme, und dass der Leib nicht zähle. Vielmehr ist es notwendig, dass Bewusstsein und den Leib zuerst zu tauglichen Mittlern des Geistes gemacht werden.

Der Unterschied zwischen einem frommen und einem spirituellen Menschen besteht darin, dass der Fromme Bewusstsein und Leib seinem eigenen Geist zum Gebrauch bereit macht, während der Spirituelle beide, wenn sie bereit sind, Gott darbietet. Frömmigkeit ist der erste Schritt, Spiritualität der folgende. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Reinheit an Göttlichkeit grenzt. Der Leib soll als Tempel Gottes betrachtet werden, und dieses heilige Gotteshaus muss auf jede Weise gereinigt werden. Dann spiegelt sich Gottes Licht darin.

Tiere haben alle das Bedürfnis, sauber bzw. rein zu sein, und für den Menschen ist es notwendig, dieses Bedürfnis zu fördern. Das hilft nicht nur auf dem geistigen Pfad, sondern auch bei der Entwicklung des Bewusstseins. Dem Künstler in seiner Kunst, dem Forscher in seiner wissenschaftlichen Arbeit – auf allen Lebensgebieten trägt die Reinheit zum Glück bei. Wenn jemand dieses vernachlässigt, muss das nicht bedeuten, dass dieser Mensch Reinheit nicht schätzt. Es könnte aber sein, dass er aus Nachlässigkeit Dinge übersieht, die von größter Wichtigkeit sind. Der eigene Leib steht einem Lebewesen von allen Dingen der Welt am nächsten – und hat eine große sowie unmittelbare Wirkung auf das Bewusstsein und die Seele. Viele Krankheiten resultieren aus mangelnder Berücksichtigung der "körperlichen Sauberkeit", die eine eigene Wissenschaft und Kunst ist.

Für Seele und Bewusstsein ist der eigene Körper erster Eindruck; alles andere kommt nachher. Auch wenn es Menschen gibt, die auf eine so hohe Ebene der Spiritualität gelangt sind, dass der Zustand des Körpers für sie keine Bedeutung mehr hat – man soll sie nicht als Vorbild betrachten. Denn der normale Weg ist für jede und jeden der sichere.

Die Frage, ob dies alles nicht allzu sehr im Denken an sich selbst bestärke, kann so beantwortet werden: Der Fokus auf dem Denken an sich ist nur dann vorhanden, wenn das Licht Gottes fehlt. Denn angesichts alles wahrhaft Schönen vergisst der Mensch sich selbst.

Aus: Hazrat Inayat Khan: Die Gathas, S. 214 - 215

 

Reinigung des Bewusstseins

Um glücklich zu werden, ist es vor allem notwendig, das Bewusstsein (mind) von all dem zu reinigen, was stört und Disharmonie verursacht. Es sind nicht nur schlechte Eindrücke, welche die Ruhe des Bewusstseins irritieren, sondern auch Gefühle des Grolls und des Widerstands gegen Dinge, die mit unseren eigenen Vorstellungen nicht übereinstimmen.

Wer ein Geschäft zu führen oder einen Beruf auszuüben hat, bedarf eines ruhigen Gemüts; am allerwichtigsten aber ist die Ruhe des Gemüts für den Menschen, der sich auf einem spirituellen Pfad befindet. Gebete, Konzentration und Meditation bleiben wirkungslos, wenn das Gemüt nicht von allen störenden Einflüssen gereinigt ist. 

Der Sufi trachtet danach, die Harmonie mit seiner Umgebung zu bewahren, und dieses kann manches Opfer verlangen. Das Streben nach Harmonie lässt einen ertragen, was man nicht bereitwillig erträgt; es lässt einen übersehen, was man nicht gerne übersieht; es lässt einen tolerieren, was man nicht gewohnt ist zu tolerieren; und es lässt einen vergeben und vergessen, was man nie vergessen würde, wäre es nicht um der Harmonie willen. Doch zu welchem Preis auch immer Harmonie erreicht wurde, so ist es doch ein guter Handel: Schließlich ist Harmonie das Geheimnis des Glücks. Ohne sie kann ein Mensch in einem Palast von allem Reichtum umgeben und doch äußerst unglücklich sein.

Zur Harmonie gelangt der Mensch, wenn er sich in Übereinstimmung mit allen Wesen, allen Dingen, allen Verhältnissen und allen Lebenslagen bringt. Wer dazu nicht imstande ist und dennoch versucht, andere auf Harmonie zu stimmen, wird "die Saite zum Reißen bringen" – oder einem Violinisten gleichen, der versucht, ein Cello zu stimmen. Wenn der Geiger mit dem Cellisten in Übereinstimmung sein möchte, muss er sein eigenes Instrument an das Cello anpassen. Jede Seele sucht ihrem Wesen entsprechend ständig nach Harmonie, doch nur wenige Menschen wissen, wie das geht. Wenn jemand sagt: "Dieser Lärm so dicht an meinen Ohren macht mich verrückt", kann er dadurch den Lärm nicht verhindern. Vielmehr sollte er lernen, sich dem Lauten zu verschließen. Wenn er das nicht kann, sollte er sich an den Lärm gewöhnen – solange, bis er ihn schließlich ertragen oder sich sogar darüber erheben kann, sodass keine Disharmonie mehr entsteht.

Häufig versucht man, einer Disharmonie zu entkommen. Aber Disharmonie hat auch einen bemerkenswerten Zauber. Wenn man ihr im Osten entgehen möchte, begegnet man ihr im Westen. Sie verlässt einen Menschen niemals. Denn wen sie liebt, dem folgt sie. Die beste Art der Disharmonie zu begegnen, ist das Bestreben, sie zu harmonisieren. In dem Wissen, dass Ursprung und Ziel aller Dinge in vollkommener Harmonie liegen – und mit diesem Gedanken im Bewusstsein –, können wir der Disharmonie begegnen: Schließlich hat sie keine eigene Existenz, sondern gleicht lediglich einem Schatten im Licht der Sonne.

Es ist sehr schwer, sich selbst zu entwickeln und gleichzeitig mit weniger strebsamen Menschen in Harmonie zu bleiben: Es ist, als ob gleichzeitig von oben und von unten an einem gezogen würde. Wenn es irgendetwas gibt, das den Menschen davor bewahren kann, zerrissen zu werden, so besteht es darin, auf alles einzugehen und zu reagieren, was von einem verlangt wird. Diesen Grundsatz lehrt Christus in der Bergpredigt. Die Bergpredigt scheint die Bereitschaft zur Unterwerfung allem gegenüber zu lehren – aber so soll sie nicht aufgefasst werden. Die Lehre ist in Wirklichkeit jene, dass man danach trachten soll, sich mit allen Tönen statt mit nur einem Ton in Einklang zu bringen. Jede Note hat ihren festen Platz, und so ist auch jeder Mensch in seinen Ideen und Wegen fixiert. Wer sich aber auf dem spirituellen Pfad befindet, entspricht allen Tönen, er oder sie ist kein Ton im Besonderen. Wir sprechen hier vom Grundton, der mit jedem anderen Ton einen Akkord bildet.

Es gibt keine Schönheit ohne Harmonie; Harmonie ist die Frucht der Liebe. Deshalb gelangt man durch die erreichte Harmonie im Leben zur Vollkommenheit von Liebe, Harmonie und Schönheit.

Aus: Hazrat Inayat Khan: Die Gathas, S. 229 - 231

 

Herzensreinheit

Spirituelle Reinheit kann weder durch äußere Waschungen noch durch das Fernhalten böser Gedanken erreicht werden. Vielmehr gilt es, das Herz von allen Empfindungen reinzuhalten, die den Rhythmus der Gemüts- und Gedankenkräfte (mind) stören und dadurch den Geist im Allgemeinen beunruhigen. Gefühle haben eine größere Kraft als Gedanken. Wenn böse Gedanken Monster sind, so sind böse Gefühle Dämonen. Gefühle wie etwa das Verlangen, jemanden seiner Rechte oder seines Eigentums zu berauben, üben auf den Geist eine äußerst beunruhigende Wirkung aus: Die Wirkung ist übrigens stärker, ehe das Verlangen in Handlung umgesetzt wird, sie ist geringer während des Handelns, und am stärksten ist sie nach vollbrachter Tat.